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Rom sehen und sterben

Rom sehen und sterben

Was ist besser – ein ruhiges Leben oder ein Leben voller Abenteuer? Die Senioren-Kolumnistin der Süddeutschen Zeitung hat eine dringende Empfehlung.

 

Protokoll: Dorothea Wagner

Der Hustenanfall hat es in sich. Ich stehe nachts in einer Gasse in Rom und halte eine Waffel mit einer riesigen Portion Pistazieneis in meiner Hand. Es ist das beste Eis, das ich jemals gegessen habe. So cremig, als bestände es nur aus Sahne und Pistazie. Aber ich bin noch etwas erkältet, und die Pistazienstücke lösen in meinem Hals Reizhusten aus. Ist das die verdiente Strafe für meine Verrücktheit? Dafür, dass ich mit fast 80 Jahren in einer fremden Stadt stehe und nachts Eis esse?

ICH TRÄUMTE LANGE DAVON, einmal nach Rom zu reisen. Mein Mann mochte aber keine Großstädte, deswegen hielten wir im Italien-Urlaub zu Rom immer einen großen Sicherheitsabstand.

Johann Wolfgang von Goethe soll von einer Reise nach Neapel einmal so begeistert gewesen sein, dass er »Neapel sehen und sterben« in seine Aufzeichnungen kritzelte. Ich münzte dieses Zitat immer auf Rom um. Ich sehnte mich nach der prächtigen Schönheit, die die Stadt in Schwarz-Weiß-Filmen hatte. Allein der Trevi-Brunnen, von dessen Anblick die Schauspielerin Anita Ekberg im Film »La Dolce Vita« so erschlagen war, dass sie nur noch wenige Worte herausbrachte und lieber darin badete.

Meine Enkelin erzählte mir einmal, dass manche jungen Menschen eine Liste darüber führen, was sie in ihrem Leben noch erleben möchten. »Bucket List« heißt das, glaube ich. Mir wurde klar, dass Rom auf meiner Liste ziemlich weit oben stand. Und als meine Enkelin davon hörte, löste das eine Kettenreaktion aus. Zu Weihnachten schenkte sie mir einen Reiseführer – und die gemeinsame Reise. Einige Monate später packte ich vier T-Shirts, vier Unterhosen, vier Sockenpaare, eine Hose und viele, viele Tabletten in eine Tasche.

Manche Menschen sind sehr glücklich, wenn ihr Leben gleichförmig verläuft. Wenn sie nachts auf ihrem eigenen Kopfkissen liegen, der Kaffee am Morgen die immer gleiche Temperatur hat, im Kühlschrank die immer gleiche Sorte Käse wartet und im Briefkasten schon die Zeitung steckt. Ich hingegen war stets eine Freundin von Abenteuern. Aber als ich morgens um vier am Bahnsteig der S-Bahn wartete, um zum Flughafen zu fahren, fragte ich mich schon, ob mir etwas weniger Abenteuerlust und etwas mehr  Gleichförmigkeit nicht ganz gut täten.

Die Frage tauchte immer wieder in meinem Kopf auf: Als ich die Schilder am Flughafen nicht lesen konnte und mir meine Enkelin ganz genau erklären musste, was ich bei der Sicherheitskontrolle zu tun hatte. Als ich versuchte, an der Piazza Venezia einen Zebrastreifen zu überqueren, ohne von einem Vespa-Fahrer angefahren zu werden. Als das Pistazieneis mich nachts zum Husten brachte.

Aber nach vier Tagen Rom kann ich sagen – Mut lohnt sich eben doch

Glück lässt sich meiner Meinung nach in zwei Kategorien einteilen: das große und das kleine Glück. Das große Glück ist, dass ich eine wundervolle Familie habe und noch einigermaßen gesund bin. Das kleine Glück sind die guten Momente des Lebens. Am besten Pistazieneis der Welt zu schlecken. Den Trevi-Brunnen in Farbe zu sehen. Ohne festes Ziel durch die römischen Gassen zu schlendern. Ein gutes Glas Wein am Abend zu trinken.

Es gibt nur eine Sache, die mich traurig macht. Ich hasse Abschiede, auch von Orten. Es gibt ein französisches Sprichwort »Jeder Abschied ist ein kleiner Tod.« Früher habe ich mich immer damit getröstet, dass ich einfach noch einmal wiederkomme. Bei meiner Reise nach Rom weiß ich, dass das nicht passieren wird. Meine Enkelin wird noch einmal nach Rom fahren und das beste Pistazieneis der Welt essen. Ich nicht mehr.

Aber nächstes Jahr fahre ich nach Amsterdam.


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